Ein häufiges Argument gegen einen harten Lockdown ist die schwierige Lage von kleinen Unternehmern. Spricht man jedoch mit ihnen, findet man viele, die sich eine konsequente Eindämmung des Coronavirus wünschen.

Von K.M. Gallagher

Fernando Guerrero hat ein hartes Jahr hinter sich. Während neun der letzten zwölf Monate war die Kneipe, die der Bremer Gastwirt mit seinem Geschäftspartner leitet, geschlossen. Als das “Eisen” im Sommer wieder aufmachen durfte, mussten sie wochenlang auf eine Genehmigung für den provisorisch zusammengebastelten Außenbereich (“drei Campingtische in einer Parklücke”) warten.

Das “Eisen” gibt es seit 1992, seit 20 Jahren ist Guerrero Geschäftsführer. Die kleine Eckkneipe in der Nähe des Weserstadions war bis 2020 eine Institution im Bremer Nachtleben. “Wir haben Leute am Tresen sitzen, die sind nur auf der Welt, weil wir vor 20 Jahren ihren Eltern gesagt haben, ‘jetzt küsst euch doch endlich’”, sagt Guerrero. Gerade für Werder Bremen-Fans ist das Lokal legendär. Es ist aber auch für Musikabende und für eine gewisse politische Haltung bekannt: antirassistisch, antisexistisch, antihomophob.

Guerrero ist keiner, der angesichts von Herausforderungen die Hände in den Schoß legt. Um seine Verluste in der Corona-Krise zu minimieren, hat er Crowdfunding betrieben und den Verkauf von speziellen Werder Bremen-Trikots organisiert. Trotzdem muss er seit einem Jahr zusehen, wie die Schulden wachsen. Er macht sich Sorgen um seine wirtschaftliche Existenz, trauert aber noch mehr um den Verlust der Kneipe als “kulturell gelebten sozialen Raum, wo die Leute niederschwellig miteinander in Kontakt kommen können”.

Es sind Unternehmer wie Guerrero, die häufig angeführt werden, um die Notwendigkeit von Lockerungen der Corona-Maßnahmen zu begründen, sowohl von Politikern als auch von Verbänden wie dem Hotel- und Gaststättenverband Dehoga. Öffnungen ohne niedrige Inzidenzen sieht Guerrero aber nicht als Perspektive.

“Nur formell öffnen zu dürfen ist kein Kriterium”, erklärt er. “Es geht ja nicht nur darum, was faktisch erlaubt ist, sondern was vernunftstechnisch vorgegeben ist. Als Gast würde ich mir die Situation angucken, bevor ich in einen geschlossenen Raum gehe. Wenn wir eine Inzidenz von 200 haben, mit all den Schreckensnachrichten, die so eine Inzidenz begleiten, dann kommt keine Sau, ganz salopp gesagt. Jeder, der noch ein bisschen restvernunftbegabt ist, wird sich nicht in eine geschlossene Kneipe setzen oder auf ein Konzert gehen.”

Vor Corona sei seine Kneipe oft an den Wochenenden brechend voll gewesen: “die Leute eng an eng, der Laden wogte wie ein kleiner Ozean”. Den Betrieb im Sommer unter Hygieneauflagen beschreibt er dagegen als “wie ein Kneipenmuseum. Wir hatten nur ein Drittel der Tische zur Verfügung, mit Abstand am Tresen. Alles, was so an Dynamik diesem Laden innewohnt, konnte nicht stattfinden, man hat sich von Tisch zu Tisch rufend unterhalten.” Auch finanziell lohnte sich der Betrieb unter Hygieneauflagen nur bedingt: “das hat nur die Verluste minimiert. Wir sind auf 30 oder 40 Prozent unseres Umsatzes gekommen”.

Für den Einwand vieler Kollegen, dass der Besuch von Gaststätten durch Hygieneauflagen sicher gemacht werden könne, hat der studierte Geowissenschaftler wenig Verständnis. “In vielen Bereichen bezieht sich das Hygienekonzept darauf, dass am Eingang ein Zettel hängt und kurz vorm Klo ein Desinfektionsspender. Aber wir müssen Realitäten auch anerkennen. Mittlerweile ist klar, dass Aerosolübertragung ein entscheidender Faktor ist. Geschlossene Räume, wo sich Menschen bei lauter Musik unterhalten, sind dafür prädestiniert.”

Verluste auch beim Termin-Shopping

Rein theoretisch sollte das Geschäftsmodell von Anne-Luise Lübbe bei hohen Inzidenzen genauso gut funktionieren wie bei niedrigen. Die Hannoveranerin betreibt ihr 2012 gegründetes Dessousgeschäft als sogenannte “Secret Lounge”. Es geht um exklusiven Service anstatt von Gewimmel: Ihre Geschäftsräume sind im 2. OG eines Hinterhauses situiert; anstatt von Passanten kommen Kund*innen mit Termin. Häufig sind sie von weit her angereist, auf der Suche nach seltenen Größen oder einer betont körperpositiven Beratung. Da in der “BH Lounge” seit jeher mit Augenmaß gemessen wird, ist Abstand selbst bei der Anprobe kein Problem.

Trotzdem hat auch Lübbe die Erfahrung gemacht, dass bei hohen Inzidenzen das Geschäft leidet. “Im November und Anfang Dezember, als wir noch geöffnet haben durften, die Zahlen aber hoch waren, hatten wir Verluste, weil Kund*innen kurzfristig abgesagt haben – aufgrund von Krankheitssymptomen oder weil es ihnen zu heikel war, oder weil sie durch Reisebeschränkungen plötzlich doch Termine nicht wahrnehmen konnten”.

Während der Pandemie ist der Umsatz der “BH Lounge” um rund 60% zurückgegangen – und das, obwohl Lübbe und ihre vier Angestellten technisch versiert sind und die Verluste möglichst durch digitale Beratungen und Internetverkäufe zu kompensieren versuchen.

Anstatt von frühstmöglichen Lockerungen, die im Falle von steigenden Infektionszahlen weitere Lockdowns nach sich ziehen könnten, wünscht sich Lübbe eine konsequente Infektionspolitik. “Durch diese halbherzigen Schließungen dauert alles länger. Die Verlängerung von diesem halbgaren Zustand schädigt uns finanziell mehr, als wenn ein richtiger, krasser Lockdown kommen würde für eine kurze Zeit. Es ist nicht, dass wir Lust auf Lockdown haben, aber wir sehen das einfach als Notwendigkeit”.

Planungssicherheit

Die Unternehmerin Claudia S. aus Augsburg sieht das ähnlich. Zusammen mit ihrem Partner leitet S. seit zehn Jahren einen Online-Shop im Bereich Hochzeit. “Von all den Onlineshops ist das einer, der von der Krise nicht profitiert” sagt sie mit einem Lachen. “Da sind wir die Pechvögel”. Bis zur Corona-Krise lief das Geschäft sehr gut; das Paar hat inzwischen vier Angestellte.

Das Jahr 2020 fing für sie ganz normal an. “Wir hatten super gute Bestellungen, ein paar tolle neue Produkte.” Zehn Tage vor dem offiziellen Lockdown-Beginn hat sich das schlagartig verändert. “Es gab eine Pressekonferenz am 12. März, wo das erste Mal gesagt wurde, ‘wir haben ein Problem’. Ab dem Tag ist eine Flut über uns hereingebrochen. Ich hatte das Gefühl, dass alle 10 Minuten das Telefon geläutet hat, weil die Leute ihre Bestellungen widerrufen haben. Es ging mir wirklich an die Substanz. Das brauche ich in meiner kompletten Karriere nie wieder.”

Diese Erfahrung hat S. davon überzeugt, dass ihr Geschäft stärker von der Stimmung im Land beeinflusst ist als von den Corona-Maßnahmen selbst. “Bei uns ging es runter vor dem Lockdown. Da wussten die Leute noch gar nicht, dass es einen Lockdown gibt, und haben schon angefangen zu stornieren. Und zwei Wochen bevor der Lockdown aufgehoben wurde, wurde bei uns wieder bestellt.”

Nach Verlusten von über 90% im Frühjahr 2020 hatte ihre Firma einen überdurchschnittlich guten Sommer: “Man merkt, wenn die Leute denken, dass alles unter Kontrolle ist, dann planen sie, dann sind sie mutiger.” Seit dem Herbst gehen aber kaum mehr Bestellungen ein.

Medial wird oft der Eindruck erweckt, dass von der Pandemie betroffene Unternehmer sich schnellstmögliche Lockerungen wünschen. S. findet dieses Bild nicht repräsentativ: “Auch für die anderen Firmen in unserem Bereich, mit denen ich gesprochen habe, gilt: lieber eine längere Durststrecke als verfrüht zu öffnen und dann wieder zurück in den Lockdown zu gehen”.

“Selbstständige denken langfristig”, sagt sie. “Wir brauchen Planungssicherheit. Wir haben uns jetzt alle damit abgefunden, in welcher Lage wir sind. Aber wenn du alles wieder hochfährst, dann hast du wieder Hoffnung. Und wenn das dann wieder weg ist, ist es schlimmer, als noch zwei Monate zu sagen, ‘gut, dann mache ich keinen Umsatz, aber ich weiß, wenn ich dann wieder los lege, dann sind die Chancen gut, dass es so bleibt’”.

Neblige Zukunft

Wie Claudia S. hat auch die Brautkleidschneiderin Friederike Fiebelkorn den Eindruck, dass die meisten Unternehmer in ihrer Branche eine Strategie der maximalen Eindämmung bevorzugen würden. “Es sind alle der Meinung, dass wir einen harten Lockdown brauchen, um wieder da raus zu kommen.”

Fiebelkorn betreibt seit über 25 Jahren ein Atelier am Olivaer Platz in Berlin. Seit Beginn der Pandemie hat sie Umsatzeinbußen von rund 90%. “Ich habe eine Stange voller angefangener Kleider. Fast alle Hochzeiten sind aufgeschoben.” Bei Ausbruch der Pandemie hat sie sechs Wochen lang Masken genäht. “Das hat auch geholfen, aber das war schlagartig vorbei, als normale Masken zu kaufen waren.” Sie glaubt, dass 2021 ein noch härteres Jahr werden wird als 2020: “Letztes Jahr dachte man noch: ‘o.k., wir heiraten dann im Herbst, oder wir heiraten im nächsten Jahr’. Aber jetzt sind wir in der dritten Welle. Es wird immer schwieriger zu planen.”

Die Zukunft ihres Unternehmens sieht sie “neblig”. Aber Fiebelkorn ist resilient. “Schlimmstenfalls muss ich hier ausziehen. Ich habe meine Nähmaschine und mein Bügeleisen, ich kann dann irgendwo wieder neu anfangen.” Die Online-Händlerin S. hat eine ähnlich positive Einstellung. “Wir gehen jetzt an unsere Altersvorsorge ran. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das wieder verdienen können. Dann muss ich drei Jahre länger arbeiten als ich mir vorgenommen habe”.

Aber es kostet Kraft, immer wieder Resilienz an den Tag zu legen, wie Gastwirt Guerrero weiß: “Man kann sich wirklich nicht sagen, dass man nicht gekämpft hätte das letzte Jahr. Und man ist wirklich am Ende seiner Kräfte. Ich glaube, wir werden wahrscheinlich vor Herbst nicht aufmachen. Das ist nochmal ein halbes Jahr, und wir sind ja keine Roboter. Das macht auch was mit uns.”